Es war einmal ein Haus, das stand mitten auf einer grünen Wiese. Ein reizendes Haus, so wie viele andere auch, wäre da nicht die mächtige Mauer gewesen, die es umgab. Eine Mauer so hoch, dass niemand darüber schauen konnte. Weder von draußen hinein, noch von drinnen hinaus. In dem Haus wuchs ein kleiner Junge heran. Der Junge spielte gerne auf der Wiese vor, hinter oder neben dem Haus. Er spielte für sich alleine. Niemals bekam er jemanden zu Gesicht. Niemals drangen Geräusche oder gar Stimmen durch die dicken Steine der Mauer hindurch. Der Junge vermisste nichts, er kannte es nicht anders.
Und er würde vermutlich heute noch so leben, hätte da nicht eines Nachts ein gigantischer Sturm getobt, der der Mauer Stein für Stein entriss, von oben bis unten. Der Sturm wütete so lange, dass die Steinbrocken nicht nur die Mauer, sondern mit ihr auch das kleine Haus bis aufs Fundament zerschmettert hatten. Dann war der Sturm des Zerstörens überdrüssig und legte sich. Der Junge, der bei dem lauten Getöse nicht einschlafen konnte, schaute aus dem Fenster und erkannte so das drohende Unheil rechtzeitig. Er huschte schnell zur Tür heraus und entkam nur knapp den Trümmern, die alles unter sich begruben. Angesichts des Unglücks, das soeben geschehen war, weinte der Junge bitterlich. Er nahm einen der Steine aus den Trümmern an sich und lief davon in die Nacht, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Wenige Stunden später kam ein kleines Mädchen, das immer seiner Nase nach lief, an eben diesen Trümmern vorbei. Es blieb stehen, bückte sich und legte seine Hand auf den Schutt. Die Hand wurde warm und ein sanfter Wind ließ den Staub in der Sonne vor seinen Augen tanzen.
Es meinte, ihn flüstern zu hören: „Was für den einen das Ende, ist für den anderen der Beginn“.
Es lächelte bei dem Gedanken und wie, um diesen Moment Wahrheit zu bewahren, nahm es einen Stein auf, steckte ihn in die Tasche seines Rocks und setzte seinen Weg fröhlich fort.
Der Junge indes lief weiter. Tagein, tagaus. Er hielt sich an seinem Stein fest, spürte Halt und Zuversicht dabei. Angst hatte er nicht. Die Wälder nährten ihn mit Beeren und Pilzen.
Die Flüsse versorgten ihn mit Wasser. Zum ersten Mal im Leben gab die Welt ihm den Blick frei auf ihre wunderschöne, scheinbar grenzenlose Natur. Ein Mehr an Farben erwartete ihn auf seinen Wegen und er staunte über die Vielfalt, die die Welt ihm darbot.
Eines Abends, der Junge hatte eine geeignete Stelle für sein Nachtlager gefunden und entfachte gerade ein Feuer, tauchte ein altes Mütterchen aus dem Dickicht auf. Sie grüßte ihn freundlich und fragte ohne weitere Umschweife, ob es hier für sie Beide genug Platz gäbe für die Nacht. Der Junge hatte nichts dagegen. Die Alte kam näher und setzte sich ans Feuer. „Die Kälte fährt mir in alle Knochen, Junge. Die Wärme tut mir sehr gut. Danke, dass ich bei dir bleiben kann.“
Etwas später gingen die zwei gemeinsam los, um Pilze für das Abendessen zu sammeln. Das Mütterchen kannte sich sehr gut aus mit den Kräutern des Waldes und sie bereiteten ein schmackhaftes Essen zu. Mehr noch als das gute Essen freuten sie sich über ihre Gesellschaft. Es tat gut, einmal nicht alleine zu sein.
„Sag, Junge, was führt dich denn in diesen Wald?“ fragte das Mütterchen und so erzählte er ihr seine Geschichte. Sie hörte geduldig und aufmerksam zu. Als der Junge fertig war, lächelte sie.
„Es ist schon eine Ewigkeit her, dass ich in diesen Wald gekommen bin. Ich war noch ein kleines Mädchen, als meine Eltern von einem Arbeitstag in den Bergen nicht zurückkamen. So machte ich mich auf, sie zu suchen. Ich habe sie nie gefunden, aber hier im Wald habe ich meinen Frieden damit gemacht.“
Die beiden vertrauten sich schnell und plauderten bis tief in die Nacht hinein.
Am Morgen unterbreitete das Mütterchen dem Jungen den Vorschlag, gemeinsam im Wald zu bleiben. Sie wollte ihn all das lehren, was sie selber wusste. Sie wollte sich um ihn kümmern und für ihn da sein. Doch der Junge zögerte. „Ich will darüber nachdenken.“ Das tat er und teilte der Alten seine Entscheidung mit. „Ich danke dir für dein Vertrauen und dein Angebot, bei dir zu bleiben. Das ehrt mich sehr. Doch war ich zu lange eingesperrt, um an einem Fleck zu verweilen. Ich will weiter gehen und mich an der Welt erfreuen. “
Die Alte war traurig und der Junge versprach, wieder einmal nach ihr zu sehen. Er fühlte nach dem Stein in seiner Tasche und schenkte ihn der Alten zum Trost. „Hier, liebes Mütterchen, dieser Stein wird statt meiner bei dir bleiben. Der Stein ist mein Daheim. Achte gut auf ihn, dann finde ich immer zu euch zurück.“
Er winkte der Alten zum Abschied und lief weiter, aus dem Wald heraus und in die Welt hinein.
Bis er schließlich in eine kleine Stadt kam, in der er sich sofort wohl fühlte. Er beschloss, eine Zeit lang zu bleiben und fing eine Lehre als Gärtner an, weil er sich mit der Natur sehr verbunden fühlte.
Der Frühling vertrieb den Winter, der Sommer machte dem Frühling Beine, der Herbst löste den Sommer ab und machte den Platz wieder frei für den Winter. So verging Jahr um Jahr.
Der Junge wurde zu einem stattlichen und angesehenen Mann, ein guter Bürger der Stadt mit einer florierenden Gärtnerei. An seinen Stein und das Mütterchen verlor er keinen Gedanken mehr.
Eines Tages kam eine junge Frau an der Gärtnerei vorbei. Davor blühte eine so schöne Blume, dass sie innehielt. Die Blüten leuchteten in dem purpursten Rot, das sie je gesehen hatte. Die Blätter waren von einem satten, gesunden grün. Der Duft der Blume war betörend und sie sog ihn genüsslich ein.
„Guten Tag. Kann ich etwas für dich tun?“
Genau in diesem Moment kam der Mann aus dem Gärtnerhaus hinaus. Die Frau richtete sich auf und wandte sich ihm zu. Als ihre Blicke sich trafen, traf sie auch die Liebe mitten ins Herz. Sie verbrachten fortan ihre Zeit miteinander und waren sehr glücklich.
Schon bald hielt er um ihre Hand an. Doch sie zögerte. „Liebste, was ist mit dir? Was liegt dir am Herzen?“
Sie atmete tief ein und sprach: „Ich war alleine, seit ich denken kann. Ich hatte nichts und niemanden. Ich lief durch die Welt, immer meiner Nase nach. Ich lebte von der Hand in den Mund. War zufrieden mit meiner Freiheit und meiner Lebensfreude. Verstehst du? Ich habe nichts. Nur die Kleider an meinem Leib und…“
Sie suchte nach etwas in der Tasche ihres Rocks. „…diesen Stein.“ Sie schluckte. „Den habe ich vor vielen Jahren an einem Platz gefunden, der vollends zerstört war. Für den einen das Ende, für den anderen der Beginn. Er hat mich stets daran erinnert, dass das, was wir haben, vergänglich ist. Und nun… habe ich dich und mit dir umklammert mich die Angst zu verlieren.“
Der Mann wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und drückte sie an sich. „Ich liebe dich und ich nehme dich so zur Frau, wie du bist. Du bist genug. Werde meine Frau und mache mich glücklich, ich bitte dich. Du und ich sind bestimmt für ein WIR.“
Noch während er die Worte aussprach, fühlte er etwas Sonderbares. Der Stein, er zog ihn irgendwie in seinen Bann. Er nahm ihn seiner Liebsten aus der Hand und verlor sich in seinem Anblick. Schnell gab er ihn zurück. Das Gefühl aber blieb. Er fand keine rechte Ruhe.
Und in dieser Nacht träumte er von einer alten Frau, die in einem tiefen Wald lebte und nach ihm rief. Er folgte ihrem Rufen und fand sie schließlich im Dickicht. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und als er sie in seine nahm, öffnete sie die Finger, die sich um einen Stein geschlossen hatten. „Komm wieder, um des Steines Willen. Ich kann nicht länger dafür sorgen.“
Der Mann erwachte schweißgebadet. Die Erinnerung hatte ihn eingeholt. Er wusste wieder alles und brach noch, ohne jede Nachricht zu hinterlassen, in derselben Nacht auf, die Alte zu suchen, wie er es ihr einst versprochen hatte.
Für die Frau ging eine Welt unter, als der Mann fortblieb. Sie vermisste ihren Liebsten sehr und litt schrecklich. Und alles um sie herum verdorrte.
Der Mann erreichte den Wald und rief nach der Alten. Ein Busch sah aus wie der andere, ein Strauch glich dem nächsten. Und so dauerte es einige Tage, bis er die Stelle fand, an der er damals sein Lager aufgeschlagen hatte und dem alten Mütterchen begegnet war.
Da es spät war, ließ er sich abermals dort nieder und versank in einen unruhigen Schlaf. Am Morgen sah er sich um, suchte nach Spuren, die sie hätte hinterlassen müssen. Doch die Natur um ihn herum war unberührt. Kein Zeichen mehr von der Alten. Er war zu spät, dachte er enttäuscht.
Direkt vor ihm wuchs ein Brombeerstrauch, der voll großer reifer Früchte hing. Das war ungewöhnlich zu dieser Jahreszeit und an einem Platz wie diesem. Da er Hunger hatte, vertrieb er die Bedenken schnell und machte sich über die Beeren her. Dann sah er dort am Boden, zwischen den Zweigen liegend, von Blättern geschützt und geborgen, einen Stein. Es war genau der Stein, den er vor langer Zeit der Alten gegeben hatte. Er lachte auf und nahm den Stein an sich.
Der Stein lag gut und warm in seiner Hand. Je länger er ihn hielt, umso wärmer wurde er. Er schaute sich den Stein an und er sah, dass seine Mitte von zartgelber Farbe war. Farbe? Aber nein, es war, als strahle ein Licht aus dem Inneren des Steins. Er erkannte darin die Silhouette des Mütterchens, die ihm wie durch den Wind zuflüsterte. „Für dich nicht das Ende. Für dich der Beginn. Nimm den Stein, du sollst es guthaben im Leben. Dein Herz hatte nie eine Heimat und nun soll es eine finden. Nimm den Stein mit als Grundstein dafür. Er wird für dich und alle, die du liebst, sorgen. Er hielt dich gefangen und nun macht er dich frei.“
Tränen liefen dem Mann über das Gesicht. „Ich kam nie zurück. Und nun bist du fort, altes Mütterchen. Es tut mir so leid.“ Wiederum flüsterte sie mit dem Wind, der durch die Bäume strich: „Nichts muss dir leidtun. Du hast genau richtig gehandelt. Du hast die die Freiheit genommen und bist beherzt voran gegangen. Und nun geh wieder, geh weiter. Nimm diesen Stein und geh.“
Dankbar für das, was das Leben ihm gegeben hatte, lief er nach Hause und er schaute nie zurück. Er lief zu seiner Liebsten, direkt in ihre Arme hinein. Sie lachten und sie weinten zusammen, so groß war die Freude über das Wiedersehen. Er erzählte ihr alles und sie verstand. Sie nahmen beide ihre Steine und brachten sie vor die Tür, legten sie auf die Erde in den Topf der einmaligen Blume, die draußen blühte.
In diesem Moment erblühte das, was verdorrt war, zu voller Schönheit auf.
Sie hatten ihr Paradies gefunden und waren glücklich.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute…